Irene Ille: "Wir wollen Leistung mit Herzensbildung vereinen"

Irene Ille in Ihrem Direktionszimmer.

Frau Ille, Sie sind mitten in einem emotionalen Countdown als Direktorin des Gymnasium Purkersdorf.

Irene Ille: Stimmt, im Moment werde ich durch eine nette Geste daran erinnert, dass mein Ruhestand naht. Es gibt einen Countdown unter dem Motto „Die letzten hundert Tage“ mit feinen Überraschungen wie meiner Lieblingsschokolade am Schreibtisch, einer Schülerin, die mir ein selbst komponiertes und getextetes Lied vorgesungen hat oder einem Überraschungsfrühstück. Sehen Sie hier (sie packt eine mit Zetteln gefüllte Klarsichthülle aus): Die Schüler haben persönliche Texte geschrieben, zum Beispiel, wie ich sie im Physikunterricht motiviert hätte. Ich unterrichte ja immer in der zweiten Klasse Physik, weil ich möchte all Schülerinnen und Schüler kennen. Hier schreibt ein Mädel: „Es ist schön, dass Sie uns zuhören und unsere Anliegen durchsetzen“. Ich habe geweint. Das ist unpackbar schön, weil die Kinder haben eines wirklich gecheckt: Dass ich immer für sie da bin.

Sie sind seit vielen Jahren Professorin und Direktorin. Als die Idee für ein Gymnasium entstand, waren Sie sehr jung - wie war das?

Ganz zum Anfang: Ich wollte schon nach der 1. Volksschule Lehrerin werden, das war mein Lebenswunsch. Ich habe ab 14 Nachhilfe gegeben und, wenn es gefragt war, in der Pause Mathe erklärt. Schon als Schülerin wurde ich oft in die Rolle der Sprecherin und Vermittlerin geschoben. Ich habe früh engagiert, heute nennt man das Peer Mediation. Ich war Klassensprecherin, Studiensprecherin. „Red Du“, hat es geheißen. Mir sind Menschen wichtig. Mir ist Bildung wichtig, ich wollte und will Wissen weitergeben, ich wünsche mir, dass die Kinder mehr wissen als ich.

Wo waren Sie selbst in der Schule?

Ich war im musisch-pädagogischen Realgymnasium in der Hegelgasse – es gab in Purkersdorf ja leider kein Gymnasium. Dort hat dann ein Lehrer gemeint, studier doch Mathe oder Physik, da bist du begabt. Ich hatte damals aber sehr viel Spaß am Sport, als Kind war ich Turnerin, war bei Meisterschaften dabei; auch heute schlage ich noch bei manchen Veranstaltungen ein Rad (lacht), das mögen die Kinder. Ich habe die Aufnahmsprüfung für Sport gemacht, aber es wurde schließlilch doch Mathe und Physik.

Wie ging es weiter?

Schon während meines Studiums habe ich Vollzeit im Internat des Sacré Coeur in Pressbaum gearbeitet, zuerst als Erzieherin und ab 21 als Lehrerin. Ich musste mein Studium finanzieren, parallel habe ich fertig studiert. 

Sie konnten sich als junge Frau also gut durchsetzen?

Es war schon lustig, ein Schüler war damals gleich alt wie ich. Aber ja, sie hatten meist Respekt. Ich glaube, dass die Menschen spüren, dass ich sie gern hab und sie unterstützen möchte. Gleichzeitig bin ich sehr klar und kann Grenzen setzen. 

Dann ging es Schlag auf Schlag.

Stimmt. Meine beiden Töchter kamen auf die Welt. Ich war nicht nur Lehrerin, sondern auch Administratorin in Pressbaum. Zu planen und zu organisieren hat mir später sehr geholfen. Bald darauf kam Karl Schlögl, damals Bürgermeister, auf mich zu und hat mich gefragt, ob ich eine Schule in Purkersdorf aufbauen möchte. Man wusste, dass ich mich auskenne und mit viel Energie und Idealismus reingehen würde. Ich wollte eigentlich nie Direktorin werden, aber das war eine interessante Herausforderung, weil es kein normales Schulprojekt, sondern ein Role Model war: eine öffentliche Privatschule. Das Schöne: es ging um die Sache, wir haben über Parteigrenzen hinweg zusammengearbeitet.

Das klingt nach viel Arbeit, gab es große Hürden?

(lacht) Ich hatte eine 80-Stunden-Woche und leicht war es nicht! Ich war die dritte Frau unter 56 Direktoren. Ich war 36, der Durchschnitt war 55 Jahre alt. Ich kam von einer BHS, nicht von einer AHS. Ich hatte kein Parteibuch, keine Institution hinter mir. Ich war wie von einem anderen Planeten. Dazu war ich jung und innovativ. Ich habe über offenes Lernen gesprochen, bei uns gab es vom ersten Tag an Informatik, dann haben wir mit Französisch in der dritten Klasse begonnen, damals hatte man da noch Latein. Die ersten sechs Jahre waren wir im Provisorium, die Eltern zahlten noch Schulgeld. Am 8. November 2002 wurde die neue Schule eröffnet und wir sind weiter gewachsen. Begonnen habe ich mit 66 Schülern und zwölf Lehrpersonen, die auch anderswo unterrichteten. Heute sind wir mehr als einhundert Lehrende und im Februar waren hier 1028 Schüler und Schülerinnen am Gym.

Was waren schwierige Momente?

Sicher, die ersten Jahre. Und: es gibt keinen Tag, wo nicht irgendein Problem auftaucht. Da darf man nicht verzweifeln, das ist so. Man muss mit Krisen umgehen, und die können sehr heftig sein. Es geht meist um menschliche Themen, die man handhaben muss. Da war ich oft gefordert. Wissen Sie, eine Schule ist ein Spiegel der Gesellschaft.

Wie intensiv greift man ein, wann hält man sich raus?

(lacht) Also ich kenne nur das Kümmern. Aber das ist jetzt nicht aufopfernd, sondern unterstützend gemeint. Wenn Menschen Hilfe brauchen, bin ich da und mache. 

Ihre größten Learnings?

Man muss schnell entscheiden, das heißt auch immer für die eine und gegen die andere Sache. Manchmal ist etwas gut gemeint, wird aber als Angriff oder Ungerechtigkeit wahrgenommen. Man braucht durchaus eine dicke Haut.

Wie sind Sie so motiviert geblieben?

Klar habe ich mir auch mal gedacht, warum tu ich mir das alles an? Aber dann gehe ich durch die Schule, sehe die Kinder und das ist es. Es klingt kitschig, aber mir geben die Kinder Kraft und Energie. Es ist ein Geschenk sie über viele Jahre begleiten zu dürfen. Selbst wenn einer vorbeigeht und sich die Kapuze ins Gesicht zieht, weil er pubertiert. Das gehört dazu. Ich mag sie alle. Auch die Lehrenden sind wunderbar, kreativ und ziehen mit.

Welchen Tipp würden Sie ihrem Nachfolger geben?

Man sollte sich bewusst sein, was Führen heißt. Führung das sind drei Dinge: Achten auf die Rahmenbedingungen, das Angebot. Es geht um das Aufrechterhalten der Motivation der Menschen, der Lehrenden. Ist der Lehrer motiviert, dann motiviert das die Kinder. Und man sollte Visionen haben, aber Visionen im Raum der Machbarkeit.

Welche Visionen haben Sie umgesetzt?

Die Schule (lacht) ... Man muss hinschauen, was die Gesellschaft braucht. Wir haben seit vier Jahren einen Kunst- und Kulturzweig. Es gibt den naturwissenschaftlichen und den Sprachzweig. In der Schule sollen Begabte gefördert und trotzdem alle in ihrer Einzigartigkeit mitgenommen werden. 

Wie haben sich die Kids verändert?

Gar nicht so stark wie man immer meint. Die Grundbedürfnisse sind gleich geblieben: Kinder wollen erkannt werden, verstanden werden. Kinder wollen respektiert, begleitet und gefördert werden, ohne sie zu sehr einzuschränken. Ein Geheimnis ist eine gute Zusammenarbeit von Lehrenden, Eltern und Kindern.

Das Geheimnis Ihres Erfolgs.

Durchhaltevermögen und Liebe zu den Menschen. Und ich denke ich hatte sehr viel Glück mit meinen Eltern. Sie haben mir so viel Gutes vorgelebt. 

Worauf sind Sie besonders stolz?

Darauf, dass wir eine Schule geschaffen haben, die Leistung mit Herzensbildung verbindet. 

Was passiert ab Herbst?

Loslassen, das kann ich gut, denn ich weiß, dass die Schule in guten Händen sein wird. Ich freue mich auf mehr Zeit mit meinem Mann, meinen Enkerln und aufs Reisen.

27.06.2024